Der Speigel
March 1998
Ana schlft. Ana schlft fast immer - jedenfalls hat man hier in Deutschland den Eindruck. Das liegt daran, da die Sonne in Minnesota spter aufgeht als hierzulande und daran, da Ana noch ein bichen spter frhstckt als die meisten Menschen in Minnesota. Lge Ana tatschlich den ganzen Tag auf dem Sofa, wre kaum erklrlich, weshalb tglich mehr als 200 000 Leute bei ihr vorbeischauen. Ana Voog, 31, hat in ihrer Wohnung sechs Kameras installiert, alle zwei Minuten wird ein Bild ins Internet gestellt. Darauf zu sehen ist meist die ganze Banalitt des Alltags: Ana it Pizza, Ana sitzt am PC, Ana rumt die Wohnung auf, telefoniert, fttert die Katze oder kmmt sich das Haar. Ziemlich oft sitzt sie auch nur einfach da und starrt in die Gegend. Und manchmal ist die Camera dabei, wenn Ana badet. Dann sieht man auch ein Stck Fleisch. Seit kurzem hat Ana einen Freund, aber der ist kamerascheu. Man mu wahrscheinlich ein bichen verrckt sein, derart beobachtet den Tag zu verbringen - aber manche Verrckte sind ja durchaus sympathisch.
Ana heit im wirklichen Leben Rachael Olson - aber was das wirkliche Leben ist, kann sie wohl so genau nicht sagen. Seit August letzten Jahres lebt sie ffentlich als Ana vor der Kamera, alle zwei Minuten ein Bild, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Nur Weihnachten nahm sie ein paar Tage frei - da war sie Hause und hat sich mit ihrer Mutter gestritten. Die hatte nmlich erfahren, da Ana auch schon mal vor Tausenden von Zuschauern Sex hatte und da sie einmal ein kleines Happening veranstaltete unter dem Titel "No Body is perfect". Da gab es in Groaufnahme das zu sehen, was Ana fr ihre Problemzonen hlt, zum Beispiel die Narben von ihrer Brustvergrerung. Rachael Olsons Argument, ihr Leben als Ana sei ein Kunstprojekt und berdies eine intensive Selbsterfahrung, mochte Mutter nicht nachvollziehen. Tatschlich aber unterscheidet sich anacam.com deutlich von den zahllosen Angeboten im Internet, wo der Zuschauer per Kreditkarte das Recht kauft, dem jeweiligen Mdchen beim Posieren und Pornografieren zuzusehen und sich im Chat noch eine besondere Stellung zu wnschen. Leute, die mit dem Satz "Show me your tits" die Grenze ihrer Kommunikationsfhigkeit erreichen, haben an Ana relativ wenig Spa. "Es geht hier nicht um Fleischbeschau", sagt sie, "wenn ich nackt bin, dann nicht fr die Kamera." Eher im Namen der Kunst. Den schnden Alltag durchbricht Ana immer wieder mal mit kleinen Projekten: Sie verfremdet die Bilder aus ihrer Wohnung mit Farbfiltern oder baut irrwitzige Spiegelkonstruktionen auf, bei denen am Ende der Betrachter selbst in die Kamera sieht. Dann wieder hlt sie sich eine Pistole vor das Geschlecht und blendet dazu die Frage ein "Wanna see my Dick?".
Oder sie drapiert sich als Madonnenfigur und verkndet: "Ich werde die Welt retten." Einige von Anas Fans haben inzwischen eigene Seiten mit Anarchiven eingerichtet, da gibt es mit Java betriebene Diashows, animierte Fotos, ein eigenes Chatboard und sogar die Newsgroup alt.fan.ana-voog. Einer archiviert sogar jedes einzelne Bild, das von Ana bers Netz geht. Aus diesen Archiven bedienen sich Anas Fans, um ihrerseits die Bilder zu verfremden und als eigene Kunstwerke an Ana zurckzuschicken. Die stellt dann die besten Arbeiten ins Netz. Die Idee, das eigene Leben im Internet zu verffentlichen, ist so neu nicht. Schon seit zwei Jahren gibt es Jennicam, wo die Urmutter der Webcams fr ein zahlendes Publikum vor der Kamera hockt. Seitdem wurde eine Vielzahl sogenannter Homecams eingerichtet, die meisten locken mit mehr oder weniger freizgigen Models, festen Stundenplnen und angekndigten Wsche- beziehungsweise Stripteaseshows. Offenbar lt sich mit der Mischung aus Amateurmodell und High-Tech gutes Geld verdienen. Auch Ana ist auf der Suche nach Geldquellen: Sie verkauft T-Shirts mit ihrem Bild, Kaffeetassen, Mousepads und CD-Roms mit je 20 000 Bildern aus ihrem Internetleben. Daneben bietet sie fr zehn Dollar im Monat den Zugang zu einem anderen Server an, auf dem ihr Bild nicht alle zwei Minuten wechselt, sondern schon nach 30 Sekunden. Eigentlich ist Ana Sngerin und Songwriterin. Mit einer Band namens "The Blue up?" hat sie sogar CDs verffentlicht - fast unter Ausschlu der ffentlichkeit. Nun hat sie wieder eine Scheibe aufgenommen, die im April erscheinen wird, wohl die erste CD der Welt, die nach einer Website heit: anacam.com. Vielleicht ist Anas Leben im Internet auch nur ein gigantischer Promotiongag fr ihre Musik - die allerdings ist nicht so berzeugend. Zu Andy Warhols Zeiten hie es, jeder knne einmal im Leben fr zehn Minuten ein Star sein - bei Ana ist das Prinzip ein anderes: Sie ist alle zwei Minuten berhmt. Unter ihrem Bild tickt ein Sekundenzhler, der die Zeit bis zum Reload anzeigt. So entsteht ein Voyeurismus, der aber nie befriedigt wird: Jedesmal will man wieder wissen, was auf dem nchsten Bild zu sehen sein wird. In einer Vielzahl der Flle ist die Antwort ganz banal: Ana schlft.